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«Ich möchte um den Sieg mitfahren»

19 min.
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von Fabian Ruch

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Marlen Reusser ist die beste und erfolgreichste Schweizer Radfahrerin. Im Gespräch verrät die Bernerin, wie sie sich auf die Tour de Suisse vorbereitet. Die 31-Jährige spricht über ihre aussergewöhnliche Karriere und ihre Ziele sowie über ihre vielfältigen Talente und darüber, warum sie Vegetarierin geworden ist.

Marlen Reusser ist die beste Schweizer Radfahrerin. Sie gewann bereits zahlreiche Rennen und Medaillen an Grossanlässen. So wurde sie bei den Olympischen Spielen in Tokio 2021 Zweite im Einzelzeitfahren. Auch in diesem Jahr ist die 31-Jährige schnell unterwegs, im Frühling gewann Reusser den Klassiker Gent-Wevelgem nach einer eindrücklichen Leistung. Die Bernerin ist eine faszinierende und vielfältige Persönlichkeit. Sie arbeitete als Ärztin, politisierte für die Grünen und fällt immer wieder durch gesellschaftliches Engagement auf.

Was bedeutet Ihnen die Tour de Suisse?
Sehr viel, es ist für mich in diesem Jahr ein Höhepunkt. Ich freue mich riesig darauf. 2023 gehört die Tour de Suisse bei den Frauen ja erstmals zur World Tour, also zur höchsten Kategorie, das erhöht den Stellenwert sehr. Das bedeutet gleichzeitig, dass das Niveau noch besser sein wird.

Was sind Ihre Ziele an der Tour de Suisse?
Ich möchte das Zeitfahren gewinnen. Und ich möchte im Gesamtklassement um den Sieg mitfahren. Das traue ich mir zu, weil ich schon in mehreren Rundfahrten starke Resultate erzielte. Und ein Sieg an der Tour de Suisse wäre in meiner Karriere ein ganz besonderer Moment. Entscheidend ist aber die Gesundheit, das habe ich in der jüngsten Vergangenheit leider erleben müssen.

«Entscheidend ist die Gesundheit»

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Wie haben Sie sich von Ihren diversen Verletzungen und Krankheiten erholt?
Es war ein sehr schwieriges zweites Halbjahr 2022. Im Juni erlitt ich eine Gehirnerschütterung, später kam eine Handverletzung dazu, ich hatte eine Covid-Erkrankung und mehrere grippale Infekte. Mein Zustand war monatelang nicht ideal, und als ich mich im Winter endlich erholt hatte, erwischte mich 2023 im Höhentrainingslager eine hartnäckige Bronchitis. Ich habe aber dennoch einen relativ stabilen Formaufbau gehabt und fuhr ja im Februar auch noch auf der Bahn in der Teamverfolgung.

Ende März gewannen Sie gleich den Klassiker Gent-Wevelgem souverän und bewiesen erneut, eine der besten Radfahrerinnen der Welt zu sein. Wie sehen Sie Ihre Rolle im holländischen Team SD Worx?
Man weiss Anfang Saison nie so genau, wo man steht. Fährt man erfolgreich, nimmt einem das Zweifel und zeigt, dass man auf dem richtigen Weg ist. Wir haben ein sehr starkes Team, es ist seit Jahren die Nummer 1 im Ranking, und ich gehöre sicher zu den vier Leaderinnen. Weil wir ein reines Frauenteam sind, kennt man unseren Namen nicht so gut wie bei anderen, die auch Teams bei den Männern haben. Ich habe Freiheiten, darf meine Stärken ausspielen und auch mal auf eigene Faust etwas probieren.

Reusser_Foto2_Blog

Welches sind die anderen Topfahrerinnen in Ihrem Team?
Seit diesem Jahr haben wir mit Lorena Wiebes die stärkste Sprinterin im Radsport, sie hat schon sehr viele Rennen gewonnen. Das verändert die Dynamik und unsere Rennstrategie. Wir fahren aggressiv und haben nun dank Lorena Wiebes auch die Möglichkeit, den Sieg zu holen, wenn es zu einem Sprint kommt. Lotte Kopecky ist in ihrer Heimat Belgien ein Superstar, jede und jeder kennt sie. Und schliesslich ist auch die Holländerin Demi Vollering eine unserer Leaderinnen, weil sie sowohl in Eintagesrennen als auch bei Rundfahrten sehr stark ist. Sie lebt übrigens in Basel und könnte an der Tour de Suisse dabei sein.

«Wir fahren aggressiv»

Wie weit zum Voraus steht denn jeweils fest, mit welchen Fahrerinnen Ihr Team an den Rennen teilnimmt?
Es gibt eine generelle Saisonplanung. Aber je nach Formstand und Verletzungen kommt es zu Anpassungen.

In welchen Bereichen haben Sie persönlich das grösste Steigerungspotenzial?
Primär renntaktisch. Ich kann noch bessere Entscheidungen treffen und strategisch klüger fahren. Wenn ich am TV Rennen schaue, weiss ich immer, was ich jetzt in dieser Situation machen würde. Aber wenn ich dann unterwegs bin, fällt es mir oft nicht leicht, zum Beispiel den richtigen Zeitpunkt für eine Attacke zu finden. Und bei kurzen, knackigen Anstiegen kann ich sicher auch noch mehr herausholen.

12th Gent-Wevelgem In Flanders Fields 2023 - Women's Elite

162,5 Kilometer Wind und Kälte: Marlen Reusser gewann im März die 9. Ausgabe des Eintagesrennens Gent-Wevelgem (Fotos: Getty Sport).

Die Bank WIR sponsert an der Tour de Suisse die Bergpreiswertung. Wie stufen Sie Ihre Fähigkeiten am Berg ein?
Ich finde lange, schwere Bergetappen sehr cool. Eine Stärke von mir ist es, über lange Strecken mit hohem Tempo zu fahren, und wenn es konstante Anstiege sind, kann ich meine Kraft voll ausspielen. Es heisst ja oft, dass man Nachteile in den Bergen habe, wenn man gross und schwer sei. Das sehe ich nicht unbedingt so, weil ich ja selber mit 1,80 m ziemlich gross bin, aber trotzdem eine ganz gute Klettererin bin. Auch hier kann es sehr entscheidend sein, wie man einen Anstieg plant und ob es einem gelingt, den richtigen Moment für einen Angriff zu finden.

«Ich finde lange, schwere Bergetappen sehr cool»

Welchen Einfluss hat der Streckenplan der Tour de Suisse auf Ihre Vorbereitung?
Wenn man an einem Rennen wie der Tour de Suisse vorne mitfahren will, muss man in allen Bereichen top sein. Es ist klar, dass ich als Zeitfahrspezialistin gelte, aber ich kann wie gesagt auch in den Bergen mithalten und Akzente setzen. Wenn wir im Team vor einer Etappe sehen, dass es günstige Abschnitte gibt, um aufs Tempo zu drücken, dann legen wir uns auf jeden Fall einen Angriffsplan zurecht. Die beste Vorbereitung ist, möglichst viele Rennen auf hohem Niveau zu bestreiten, sich aber auch immer wieder Ruhepausen zu gönnen.

Sie sind Ärztin, waren Politikerin bei den Grünen, sind seit Ihrer Kindheit Vegetarierin, gelten als intelligent und interessant. Wie wichtig ist Ihnen dieses Image?
Ich kann nicht ändern, was andere Leute über mich denken wollen. Natürlich freut es mich, wenn mein Image positiv ist. Diese Geschichte des angeblichen Wunderkindes wird aber gerne ausgeschmückt. Mir ist wichtig, dass ich alle Entscheidungen mit voller Überzeugung treffe. Es geht am Ende nicht darum, möglichst viele Diplome gemacht zu haben, sondern sein Leben so zu leben, wie man es möchte und für richtig hält. Und ob jemand intelligent ist oder nicht, definiert sich sowieso nicht dadurch, ob man studiert hat oder nicht.

Was dachten Sie vor 10 Jahren, wie Ihr Leben 2023 aussehen wird?
Damals war ich mitten im Medizinstudium und hatte keine Ahnung, was ich in ein paar Jahren machen werde. Ich bin ein Mensch, der sehr im Hier und Jetzt ist. Ich war schon als Jugendliche politisch aktiv und hätte mir wohl nicht vorstellen können, einmal beruflich im Flugzeug unterwegs zu sein, wie ich es nun als Radprofi bin. Ich bin übrigens gar nicht so strikt, wie man manchmal über mich schreibt.

Wie meinen Sie das?
Na ja, es gibt nun mal gewisse Dinge in meinem Leben, die dazu geführt haben, dass die Medien ein bestimmtes Bild von mir gezeichnet haben. Ich würde jeden Tag vor einem Dilemma stehen, wenn ich radikal nach meinen Grundsätzen leben möchte. Wichtig ist, dass man Entscheidungen trifft, hinter denen man stehen kann. Ein Beispiel ist die Umwelt, die vor die Hunde geht, wenn die Menschheit so weiterlebt. Ich werde mich immer dafür einsetzen, dass sich die Rahmenbedingungen verbessern und wir ökologischer denken und leben. Aber es wäre falsch, missionarisch aufzutreten und mit dem Finger auf andere zu zeigen.

12th Gent-Wevelgem In Flanders Fields 2023 - Women's Elite

Wie viel Mut hatte es benötigt, vor ein paar Jahren als Ärztin einen spannenden, gut bezahlten Job aufzugeben und es als Radprofi zu versuchen?
Geld war nie und wird nie eine Entscheidungsgrundlage für mich sein, etwas zu tun oder nicht zu tun. Ich bin nicht naiv, weil ich weiss, dass man Geld benötigt, um ein anständiges Leben zu führen. Doch wenn man nur finanziellen Überlegungen folgt, ist das selten eine gute Idee, um glücklich zu werden. Viel besser ist es, seine Leidenschaften auszuleben, seine Interessen und Träume zu verfolgen.

Sie sind bei Sponsoren als Werbeträgerin beliebt und sehr erfolgreich als Radprofi unterwegs. Wie zufrieden sind Sie mit Ihrem Leben und Ihrem Einkommen?
Ich darf meine Passion ausleben, das ist mir wichtig. Und ich kann mittlerweile gut davon leben.

Wie sehen Sie generell die Entwicklung des Frauensports?
Es geht vorwärts. Aber man sollte den Sport nicht isoliert betrachten. Es ist elementar, dass Frauen in allen Bereichen genügend Respekt bekommen und gleichberechtigt behandelt werden. Die Situation im Radsport ist leider immer noch so, dass die Männer deutlich mehr Aufmerksamkeit erhalten. Bei uns Frauen fehlt oft die Sichtbarkeit, deshalb kennt man die Fahrerinnen weniger gut.

«Bei uns Frauen fehlt oft die Sichtbarkeit»

Sie begannen erst sehr spät mit Leistungssport. Denken Sie manchmal, was möglich gewesen wäre, wenn Sie schon als Mädchen trainiert hätten?
Nein, so funktioniere ich nicht. Es ist genau richtig, wie sich alles entwickelt hat in meinem Leben. Und mir bleiben noch ein paar gute und schöne Jahre im Radsport. Nächstes Jahr finden die Olympischen Spiele in Paris statt, das wird hoffentlich ein grossartiges Erlebnis.

Sie wuchsen auf einem Bauernhof in einer ländlichen Gegend auf. Wie stark hat Sie das geprägt?
Ich wohne immer noch in Hindelbank, das ist meine Heimat. Aber natürlich bin ich auch deswegen Vegetarierin geworden, weil ich leider auf vielen ländlichen Betrieben gesehen habe, wie Tiere teilweise gehalten werden. Es hat bei mir nichts mit Lifestyle zu tun, dass ich mich bewusst, mit Respekt und vegetarisch ernähre.

Und was machen Sie in 10 Jahren?
Sie würden jetzt gerne hören, dass ich dann als Ärztin und Politikerin tätig bin, oder (schmunzelt)? Wie gesagt: Ich lebe in der Gegenwart. Wenn ich sehe, was sich in meinem Leben in den letzten 10 Jahren verändert hat, dann ist es sehr schwierig, heute eine Prognose zu stellen, was 2033 sein wird. Ich möchte auch dann die Balance im Leben finden. Alles andere ergibt sich, an Interessen fehlt es mir nicht.

Bank WIR präsentiert das Bergpreistrikot

Die WIR Bank Genossenschaft ist von 2023 bis 2025 Premium Partner der Tour de Suisse und präsentiert das Bergpreistrikot. Die Tour de Suisse ist der grösste alljährlich stattfindende Sportanlass im Land und ein Radsportfest für die breite Öffentlichkeit. Diese entspricht genau dem Zielpublikum für die Positionierung der Genossenschaft als die Schweizer Bank für Spar- und Vorsorgeprodukte.

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