Work-Life-Balance zwischen Digital Detox und Höhenflügen
Rolf Stalder ist als Architekt erfolgreicher Unternehmer. Erste körperliche Signale haben zu persönlichen Veränderungen geführt. Im Interview redet er über übertriebene Disziplin, falsche Vorbilder und geistige Freiheit.
WIRblog: Die wohl einfachste und offenste Einstiegsfrage zum Thema Work-Life-Balance – sind Sie gestresst?
Rolf Stalder: Es gilt zwischen positivem und negativem Stress zu unterscheiden. Nach 30 Jahren Unternehmertum ist auf jeden Fall der Moment gekommen, an dem ich mich sehr stark mit dem Thema Stress sowie berufliche und private Zukunft auseinandersetze.
Weshalb?
Weil ich zu viel um die Ohren habe und beruflich noch erfolgreicher werden kann, wenn ich meine vielen Aufgaben auf mehrere Schultern verteile.
Woran stellen Sie das fest?
Ausser am Wochenende bin ich seit Jahrzehnten jeden Tag um 6 Uhr früh im Büro. Mit nun 52 Jahren meldet sich mein «Bauch» ab und an mit Zwicken da und dort – und sendet Signale, mir nun bitte Sorge zu tragen.
Und was tun Sie dagegen?
Als Sofortmassnahme ich habe ich mir ein zweites iPhone angeschafft. Dieses wird um 17.30 Uhr, wenn ich zum Sport aufbreche, der Assistentin abgegeben – ganz nach dem Motto: «Take care, ich bin jetzt weg!» Auf dem privaten iPhone habe ich das geschäftliche Mailkonto gelöscht. Ich nenne das «Digital Detox»!
Das Umdenken geht nur mit technischen Hilfsmitteln.
Ja. Nur den Push-Mechanismus auf dem privaten Gerät abzuschalten, genügte nicht. Es war eine Sucht. Nach Abschalten des E-Mail-Kontos stand ich am ersten Sonntag kurz davor, um ins Büro zu rennen und die Mails zu checken. Ich rauchte zwar noch nie im Leben, aber wahrscheinlich war es so, als steckte ich mir die letzte Zigarette an, als ich den E-Mail-Account auf meinem privaten Handy löschte.
Die Technik als alleiniger Hilfsbringer?
Nein. Zum 30-jährigen Bestehen der Architektur Rolf Stalder AG wurde eine Umstrukturierung angestossen – ganz klar mit dem Ziel, mich zu entlasten. Aus heutiger Sicht war es vielleicht ein Fehler, die Firma vor 30 Jahren nach mir zu benennen. Das Ganze ist personifiziert, was die Abnabelung – und natürlich auch die Nachfolgeregelung – herausfordernder macht.
Hat es die körperlichen Signale gebraucht, um schlauer zu werden?
Ja, ich glaube schon. Als Chef seiner eigenen Firma hat man doch immer das Gefühl, ein «Superman» zu sein. Die körperlichen Signale hat es gebraucht, um zu spüren, dass auch ich punkto Belastung Grenzen kenne.
Als Chef seiner eigenen Firma hat man doch immer das Gefühl, ein ‹Superman› zu sein.»
Sie haben die Abnabelung und Nachfolgeplanung erwähnt. Was heisst das konkret?
Meine selbstständige Architekturkarriere startete mit 22, seither habe ich 30 Jahre als KMU-Chef gearbeitet. Andere wären da schon lange in Pension, weil man sich üblicherweise nicht so jung, sondern meist erst im Alter von 40 selbstständig macht. Ja, ich beschäftige mich mit dem Thema Nachfolgeplanung – und dieses Thema macht in «jungen» Jahren mit viel Energie und Tatendrang auch sehr Spass. Zwar habe ich noch 10 bis 15 Jahre im Visier, aber ich überlege mir: Was ist in fünf Jahren, was in zehn? Und das Ganze hat einen guten Nebeneffekt: Er heisst Risikodiversifizierung, falls mir etwas zustossen sollte.
Wie lange läuft der Prozess – und was sieht dieser inhaltlich im Detail aus?
Der Prozess läuft seit einem Jahr und beinhaltet seither unter anderem ein neues Mitglied im Verwaltungsrat, die Einführung von zwei Ebenen in der Geschäftsleitung, einer Qualitätssicherungsabteilung sowie das Etablieren des Projektleiterstatus. So laufen die einzelnen Projekte eigenständiger.
Mehr Autonomie also. Trotzdem reden wir immer noch von der Architektur Rolf Stalder AG – also von der nach Ihnen benannten Firma. Hand aufs Herz Können Sie da wirklich jemals abschalten?
Diese Veränderungen entlasten mich bei operativen Projekten wirklich sehr gut. Allerdings bin ich nach wie vor zu 98 Prozent für die Akquisition und die konzeptionelle Projektentwicklung zuständig – und das ist natürlich eine 24/7-Aufgabe.
Stress.
Einspruch. Hier rede ich von positivem Stress.
Rolf Stalder in Aktion
Die Akquisition an einer Person aufzuhängen ist risikoreich.
Absolut. Und jetzt sind wir wieder bei unserem Prozess, das Ganze zu entpersonifizieren.
Die Frage nach der Ablösung von Akquisiteur Rolf Stalder …
… schieben wir ehrlicherweise noch vor uns hin. Lassen Sie es mich so formulieren: Zuerst bringen wir mit den Strukturen das Haus in Ordnung, dann schauen wir, wie ich ergänzt oder ersetzt werden könnte.
Wie ist es um die Work-Life-Balance der Mitarbeitenden bestellt?
Bei diesem Thema sind wir sehr streng. Im Personalreglement ist klar festgehalten, dass grundsätzlich keine Überstunden gemacht werden dürfen – und sollten sich doch einmal welche anhäufen, kommt es bei 30 Stunden zwingend zum Gespräch mit Massnahmendefinition für den Abbau der Überzeit.
Sie haben den «Superman» Rolf Stalder vorhin angesprochen, der körperliche Warnsignale erhalten hat. Welche Signale sendet dieser «Superman» punkto Work-Life-Balance aus?
Eine sehr gute Frage. Wenn man als Chef morgens um 6 Uhr bereits im Büro sitzt, könnte dies – gerade bei jüngeren Mitarbeitenden – so aufgefasst werden, dass nur erfolgreich werden könne, wer so lange arbeitet. Das ist ein falsches Vorbild. Ich sollte vielleicht nicht so viel da sein.
Nicht so viel da sein: Was hindert Sie daran, es zu tun?
Meine übertriebene Disziplin. Ein falsch verstandener Bereitschaftsdienst als «Kapitän im Cockpit». Als Unternehmer hat man ein Leben lang unbegründete Existenzängste.
Das ist noch immer zu unkonkret: Was ändert Rolf Stalder in seiner Work-Life-Balance?
Ich will nicht gross die Quantität herunterschrauben, sondern an meiner geistigen Freiheit arbeiten. Bei schönem Wetter beispielsweise spontan an einem Mittwochnachmittag meinem Hobby, der Kunstfliegerei, fröhnen.
Und das funktioniert heute noch nicht, weil …
… es mir der persönliche Anwesenheitsdruck im Kopf nicht erlaubt. Nicht falsch verstehen: Ich weiss, dass es mich nicht immer zwingend braucht, aber ich fühle mich als Kapitän auf diesem Schiff und habe für alle Eventualitäten hier zu sein. Das hier erforderliche Umdenken muss ich mit mir selbst abmachen. Ich arbeite daran. Angefangen mit dem «digitalen Detox». Das ist schon sehr befreiend.
«Als Unternehmer hat man ein Leben lang unbegründete Existenzängste.»
Haben Sie das Hobby zum Beruf gemacht – oder ist das für die Architektur ein zu verklärtes Bild?
Architekt ist ein wunderschöner Beruf, aber er hat auch mit der «rauen» Bauerei zu tun – und ist folglich auch streng, hart und konfliktträchtig. Natürlich ist es traumhaft, wenn aus einer Handskizze sich ein Raum entwickelt, in dem man sich aufhalten, leben und frei fühlen kann. Aber Hobby zum Beruf? Ich war damals zu jung um dort kurz nach der Volljährigkeit von «Architektur als Hobby» zu sprechen. Es war und ist einfach mein Traumberuf. Ich liebe ihn und die einhergehende Kreativität mit den vielen Facetten.
Sie haben es angesprochen: Sie wurden mit 22 selbstständiger Architekt. Welche Vorstellungen von damals haben sich nicht erfüllt?
Ich hatte damals keine. War noch nie in meinem Leben angestellt, da ich mich direkt nach der Ausbildung und dem Militär selbstständig machte. Hatte keine Referenzen. Und vor allem hätte ich nie damit gerechnet, dass ich 30 Jahre später 35 Angestellte habe und derart tolle Bauten realisieren darf. Die ersten 15 Jahre waren knochenhart: habe unter dem Bürotisch geschlafen, ich war eine Art funktionierende Architekur-Maschine im Büro, hatte nur das Geschäft und meine Aufträge im Kopf – habe mein Privatleben, meine Freunde und Beziehungen vernachlässigt. Da habe ich einiges verpasst. Und heute ist die Lust da, dies nachzuholen und privat abzuheben.
Sie gehen als Kunstflieger regelmässig in die Luft. Wo sind die Parallelen zum Job?
Disziplin, Präzision, Planung und Beherrschung. Und: Ich muss mich konzentrieren. Was aber, und jetzt schliessen wir den Kreis zum Thema Work/Life-Balance, für mich besonders hilfreich ist: Wenn ich zum Flugplatz fahre, meine Kunstflugmaschine aus dem Hangar schiebe, denke ich nicht mehr an den Beruf. Nicht der Liegestuhl, sondern der Kunstflug bietet für mich Entspannung pur. Von dort oben ist die Welt so klein – das führt automatisch zu Distanz und Freiheit.
Kunstfliegerei: So geht Architekt Stalder in die Luft
Die Geschichte, wie Rolf Stalder zur Kunstfliegerei kam, ist weitaus unspektakulärer als die aussergewöhnliche Freizeitbeschäftigung selbst. «Im Jahr 2000 war ich auf der Suche nach einem Hobby», beginnt er zu erzählen, «und ein Freund, der Airline-Pilot ist, schickte mich zum Flughafen.» Fertig.
Wenig später sass Stalder mit einem Fluglehrer in einer Maschine und wusste: Die Fliegerei ist mein neues Hobby. In der eineinhalbjährigen Ausbildung zum Privatpiloten stand auch eine Gefahreneinweisung mit einem kleinen Kunstflieger auf dem Programm. Da war es vollends geschehen.
Seit mittlerweile 15 Jahren hat Stalder die Kunstfluglizenz und trainiert jedes Wochenende. Von Basel geht es dem Rhein entlang Richtung Fricktal. «Über Pratteln melde ich mich vom Tower ab und starte bei Rheinfelden und Möhlin mein 10-Minuten-Training.» Die Vorschriften sind klar: mindestens 500 Meter über Boden, nicht über bewohntem Gebiet.
Das Training vergleicht Stalder mit einem Schleuderkurs beim Autofahren – auch das seien letztlich die besseren Lenkerinnen und Lenker. «Ich mag mich an keinen Kunstflugunfall in der Schweiz erinnern», sagt er – und schiebt nach: «Im Gegensatz zu den Sonntagsausflügen mit unroutinierten Piloten …»
Ein einziges Mal wird es im Interview kurze Zeit still, als Stalder fragt: «Das Flugzeug steht im Hangar bereit, in 30 Minuten wären wir in der Luft – haben Sie jetzt Zeit?» Die Frage ist nicht erstgemeint, denn beim Kunstfliegen kann der Passagier kein Laie sein. Der Flieger von Stalder hält eine Belastung bis g-Faktor 25 aus; ein untrainierter Mensch wird bei etwa 6g bewusstlos. «Bei mir ist in trainiertem Zustand bei 10g fertig», so Stalder. Trainiert heisst bei ihm unter anderem auch tägliche Kraft und Ausdauer im Fitnesstudio. Ab 17.30 Uhr, dann wenn das Büro-iPhone abgegeben wird.
Ein Ziel bleibt: Wettkämpfe. Voraussetzung dafür wäre pro Jahr die Teilnahme an dreiwöchigen Trainingscamps, die in Frankreich oder Spanien stattfinden. «Dazu fehlt mir die Zeit», sagt Stalder. Lächelt. Und schiebt ein «noch» hinterher. (stv)
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