«Wir müssen uns moralisch weiterentwickeln»
Die Covid-19-Pandemie wird die Geschäftsmodelle verändern – auch für KMU. Trend- und Zukunftsforscher Andreas M. Walker sieht aber noch weitere Herausforderungen auf uns zukommen. Erster Teil unseres Interviews.
Wir blicken auf ein Jahr 2020 zurück, das so niemand erwartet hatte. Oder doch?
Andreas M. Walker: Die Gefahr einer neuen Pandemie beschäftigte die Fachwelt seit rund zwei Jahrzehnten. Ich selbst habe in den Jahren 2003 bis 2005 für eine strategische Übung des Bundesrats ein entsprechendes Szenario beschrieben. Fachämter, Risikospezialisten, Krisenspezialisten: Sie alle hatten das Phänomen auf dem Radar – als es dann plötzlich eintrat, waren aber doch alle überrascht.
Hat man die Bedrohung zu wenig ernst genommen?
Seit etwa 15 Jahren reden wir vom «Black Swan», dem Schwarzen Schwan, also von etwas, das einen überrascht, auf das man sich gar nicht vorbereiten kann. Wir reden auch vom Begriff des «Black Elefant», dem Schwarzen Elefanten. Er steht für ein Ereignis, das mit hoher Wahrscheinlichkeit eintreten wird, aber trotzdem negiert wird. Und das trifft auf die Pandemie zu: Man weiss vom Schwarzen Elefanten, aber man ignoriert ihn, verdrängt ihn – will ihn nicht wahrhaben.
Persönlich kann man nur verdrängen, was man auch weiss: Dass Pandemieszenarien längst ein Thema waren, wurde erst in den vergangenen Monaten wirklich realisiert. Ist das ein Kommunikationsversagen?
Ja und nein. Gegenfrage: Wie kommt eine Kommunikation der Spezialisten mit komplexen Zusammenhängen und Eventualitäten an die breite Masse heran, wenn die Medien- und Kundenwelt nur noch einfache Botschaften fordert? Zudem war die Aufmerksamkeit auf Themen wie «Me too», Greta Thunberg und Klimaschutz oder die Digitialisierungsdebatte gerichtet – in diesem Lärm mit der zugehörigen Dramatisierung ging das Pandemieszenario ganz einfach unter.
Waren wir zu blauäugig?
(lacht) Als ich vor zwei Jahren umgezogen bin, habe ich die eingangs erwähnten Pandemie-Ordner auch entsorgt. Zurück zur Frage: Wir sind heute sehr gut im Scannen des Horizonts, im Erstellen eines Zukunftsradars. Aber zu sagen «Jetzt kommt es» – daran hapert es noch stark.
Das Thema war in Asien bereits im Herbst 2019 latent aktuell. Weshalb wurden wir hier dennoch überrascht?
Der bereits angesprochene Wille zur Verdrängung ist psychologisch sehr stark. In diesem Fall: Wir wollten das Problem in Asien nicht zu unserem machen. Und jetzt kommen wir in den Bereich der Denkmuster, losgelöst vom Thema der Pandemie: Wir denken immer noch viel zu sehr linear. Systeme können aber sehr plötzlich explodieren – dann sind Disruptionen nicht Veränderungen, sondern Brüche. Das ist in unserem Bewusstsein noch nicht vorhanden.
Sie haben die Allgemeingültigkeit dieses Schemas angesprochen: Wo sehen wir weitere Beispiele?
In der Klimadiskussion. Die Prognosen beziehen sich dort auf einen Horizont im Jahr 2050. Deshalb denken wir «Ja, irgendwann …». Aber so plötzlich wie die Pandemie da war, so plötzlich könnte auch im Umweltbereich «etwas» stattfinden. Wir – und jetzt schlagen wir auch die Brücke zur Wirtschaftswelt – krallen uns an Pläne und die daraus vermeintlich entstehende Planungssicherheit. Wir wissen in unserer Kultur gar nicht, wie wir mit Überraschungen umgehen sollen.
«Der Wille zur Verdrängung ist psychologisch sehr stark.»
Genau diese Planungssicherheit ist gerade in der Coronakrise vielen Unternehmen und gesamten Branchen abhandengekommen.
Wir sind uns, ich habe es vorhin schon angetönt, heute einfache Botschaften gewohnt: alles oder nichts, am besten auf einer Zeile. Die Coronakrise hat die Bevölkerung aber in vier Kategorien aufgeteilt. Das sind zunächst jene, die verunsichert und verängstigt sind und dadurch in Apathie verfallen. Augen zu, Ohren zu, Mund zu. Hoffen, dass man es aussitzen kann. Kategorie zwei sind jene, die herumschreien: «Nicht meine Schuld, es muss jemand anderes bezahlen – dafür haben wir den Staat.» Die Kategorie drei ist mutig und improvisiert. Und daraus leitet sich Kategorie vier, die auch beim Improvisieren zuerst ein Modell rechnen will.
Angst oder unternehmerische Vorsicht?
Unsere Basis ist eine bildungsbürgerliche Gesellschaft, die an die Korrektheit von Konzepten, Budgets und Businessplänen glaubt. Das Gros der heutigen Generation von Unternehmerinnen und Unternehmern ist in einer Zeit aufgewachsen, in der Businesspläne 20 bis 50 Seiten stark waren. Heute ist ein Business-Model-Canvas Realität, das auf einer Seite Platz hat. Heute müssen wir Sachen ausprobieren und herausfinden. Und jetzt reden wir von einer Denkweise, die all denjenigen, die irgendwann in den letzten Jahrzehnten vor der Jahrtausendwende ihre Ausbildung genossen haben, fremd ist.
Unsere nächste Generation an Unternehmerinnen und Unternehmern würde mit der Krise folglich besser umgehen?
Mit einem Blick auf den «Lehrplan 21» würde ich mit «Ja» antworten. Die Art des Denkens für unsere junge Generation entwickelt sich in die Richtung, viel agiler und improvisierender unterwegs zu sein. Es ist ein Paradigmenwechsel, der stattfindet.
Aber auch heutige Generationen waren doch lernfähig und haben zuletzt immer häufiger den Begriff der Disruption geprägt.
Richtig, beispielsweise in der Digitalisierung. Seit fünf Jahren wird dort darüber geredet, dass Businessmodelle neu erfunden und ganz anders gestaltet werden müssten. Aber es fiel den meisten schwer, sich darunter etwas Konkretes vorstellen zu können. Jetzt ist die Disruption da – nicht in der Digitalisierung, sondern in Form einer Seuche.
Kommen wir kurz auf die vorhin erwähnte Kategorie «Ich bin nicht schuldig, also helft mir». Inwieweit haben Sie dafür Verständnis?
Mein Geschäftsmodell ist selbst zu einem grossen Teil abhängig von öffentlichen Auftritten und Veranstaltungen. Auch ich bin direkt betroffen. Und gleichzeitig leben wir in einem Staat mit einer Sozialverantwortung, in dem das Mittragen der Schwächeren Teil unserer Kultur ist. Neu ist, dass es in der Coronakrise solche trifft, die überhaupt nicht damit gerechnet haben. Gleichzeitig gibt es Gewinner, gibt es Branchen, die boomen und volle Bücher aufweisen. Das Hineindenken in den anderen fällt unglaublich schwer – das Wahrnehmen, dass wir eine Gesellschaft mit verschiedenen Realitäten haben.
«Jetzt ist die Disruption da – nicht in der Digitalisierung, sondern in Form einer Seuche.»
Das kratzt noch zu sehr an der Oberfläche. Was sollen diejenigen tun, die im Zuge von Corona-Massnahmen ihr Geschäft plötzlich nicht mehr öffnen durften?
Vorweg: Es gab und gibt viele Beispiele, wo – bereits im Frühjahr 2020 – etwa Gastronomen Lieferdienste eingerichtet haben. Daraus entstand auch eine boomende Velokurier-Branche. Schwierig wird es natürlich überall dort, wo beispielsweise Fixkosten auf Immobilien vorhanden sind. Eine Patentlösung habe ich auch nicht. Aber wir müssen sicher am Thema der Arbeitsmoral arbeiten. Gerade in der Schweiz ist diese von Fachwissen, Fleiss, Korrektheit und Pünktlichkeit geprägt. Diese Komponenten beantworten letztlich die Frage: Was ist anständig verdientes Geld? Hier sehen wir Brüche; Unternehmerinnen und Unternehmer werden unschuldig zu Opfern. Sie haben einen guten Job gemacht – und plötzlich geht nichts mehr.
Das heisst, wir sind auch moralisch nicht in der Lage, mit der Situation umgehen zu können?
Ja, hier müssen wir uns weiterentwickeln und nicht verurteilen. Und ja: Es gibt wirklich Unternehmerinnen und Unternehmer, die mehr improvisieren müssen.
Und proaktiver werden?
Lassen Sie mich ausholen: Beim «Lockdown» im Frühjahr 2020 waren wir alle überrascht. Ich wurde im April und Mai gefragt: Wie geht es weiter? Meine Antwort damals: Es wird eine zweite Welle kommen. Ich wurde als Panik- macher betitelt. Nein, aus der Seuchengeschichte wissen wir, dass es zwei Wellen gibt … vielleicht sogar drei.
Dann ist die zweite Welle gekommen …
… und ich habe den Eindruck, dass die Leute teilweise wieder ähnlich überrascht waren wie im Frühjahr. Fakt ist: Ohne nachhaltige Wirksamkeit des Impfstoffs werden wir noch weitere schwere Monate vor uns haben. Das Eventwesen könnte bis Ende 2021 tot sein. Oder man findet eben mit Improvisation neue Formen und Wege.
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Fotos: Raffi p.n. Falchi
Zur Person
Dr. Andreas M. Walker zählt zu den führenden Trend- und Zukunftsexperten der Schweiz. Er ist Ehrenmitglied von swissfuture, der Schweizerischen Vereinigung für Zukunftskonferenz, und ehemaliger Co-Präsident. Als Fachoffizier bzw. Offizier für strategische Analysen ist er seit 1994 in die Früherkennung neuer Krisen und in die Entwicklung von Übungsszenarien involviert. 2003 bis 2005 wirkte er im engeren Kernteam für die strategische Führungsübung des Bundesrats «Epidemie in der Schweiz» mit. Danach unterstützte er mehrere Ämter, Verbände und Firmen in der Vorbereitung für das Risiko einer neuen Pandemie. Aktuell befasst er sich als Autor, Interviewpartner, Trainer und Dozent intensiv mit den Hintergründen von Corona Covid-19.
Walker hat die WIR Bank schon mehrfach als Referent für Zukunftsthemen unterstützt. Als ehemaliger Bankdirektor, Verwaltungsrat von KMU und Geschäftsführer auf Zeit ist er ein versierter Kenner der Früherkennung und der proaktiven Gestaltung von strategischer Veränderung. Er unterstützt Firmen in der Beratung, mit Workshops und Referaten.
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