«Weniger Leute, mehr Auswahl, günstigere Preise»
Saisonverlängerung als Trend: Martin Nydegger, Direktor Schweiz Tourismus, über die Vorteile, die Herausforderungen und wieso der Ganzjahrestourismus den Fachkräftemangel entkrampfen kann.
Schweiz Tourismus setzt auf die Karte Ganzjahrestourismus. Warum?
Derzeit sind wir in den verschiedenen Monaten noch zu unterschiedlich ausgelastet. Durch eine zeitliche und räumliche Diversifikation wollen wir das ändern.
Was genau ist mit der räumlichen Diversifikation gemeint?
Der Hebel dazu sind die Gästeströme. Zugegeben, an wenigen Tagen im Jahr kommt es auch in der Schweiz zu Engpässen an den touristischen Hotspots. Wir haben aber keinen Overtourismus. Diesen verhindern wir weit im Voraus, indem wir die Gästeströme schon bei deren Reiseplanung so lenken, dass nicht alle zur gleichen Zeit am gleichen Ort sein wollen. Wir zeigen ihnen Alternativen zu den touristischen Highlights.
Und wie verhält es sich mit der zeitlichen?
Dabei geht es um die unterschiedlichen Hauptreisezeiten. Für Inder sind das zum Beispiel Mai und Juni, für Südostasiaten der Herbst. Die Gäste sollen möglichst lange bleiben – und idealerweise dafür vielleicht auf ein bis zwei Flüge pro Jahr verzichten. Zudem bewerben wir seit mehreren Jahren den Herbst als eigenständige Saison mit sehr viel Potenzial. Die Kampagne ist mittlerweile hinter dem Sommer die zweitstärkste. Das zeigt, wie sehr die Branche an dieser Saison interessiert ist. Das bedeutet aber auch das ganze Jahr über Touristen. Als Bewohnerin oder Bewohner eines touristischen Gebietes könnte man sich die Frage nach dem «kleineren Übel» stellen: Mehrere Monate im Jahr mit sehr vielen Touristen und dazwischen etwas Ruhe? Oder zwölf Monate einen permanenten touristischen Zulauf?
Eine spannende Frage, die aber nicht wir von Schweiz Tourismus als Organisation, sondern die Destinationen und Betriebe zusammen mit ihrer lokalen Bevölkerung beantworten müssen. Sie können entscheiden, ob sie bewusst eine Zeit für sich wollen. Wenn es Hotels gibt, die nur einige Monate im Jahr geöffnet haben und damit genug Geld verdienen, umso besser. Das sind aber eher Ausnahmefälle.
Inwiefern profitieren die Betriebe wie Hotels oder Seilbahnen davon, die Saison zu verlängern?
Wenn ich als Betrieb die teure Infrastruktur länger auslasten kann, kann ich die Fixkosten besser verteilen. Zudem ist es möglich, Mitarbeitende das ganze Jahr und nicht nur als Saisonniers zu beschäftigen. Daraus folgen mehr Erfahrung, mehr Loyalität und im Idealfall eine besser Qualitätsleistung.
Ist eine Ganzjahressaison beim derzeitigen Fachkräftemangel überhaupt realistisch?
Davon bin ich überzeugt. Grösstenteils handelt es sich ja um länger dauernde Einsätze und nicht um neue Arbeitsplätze. Für einen Betrieb ist es in jedem Fall attraktiver, Ganzjahresstellen auszuschreiben. Der Ganzjahrestourismus kann darum ein Ansatz sein, ganz löst er das Problem Fachkräftemangel aber nicht.
Und was haben die Gäste von einer verlängerten Saison?
Auf der Nachfrageseite zeigt sich klar, dass die Nebensaison immer interessanter wird. Es hat weniger Leute, mehr verfügbare Angebote und meistens günstigere Preise.
Nur ist das touristische Angebot in der Nebensaison meistens eingeschränkt.
Alles steht und fällt mit den Öffnungszeiten. Die Destinationen müssen sicherstellen, dass immer mindestens ein Angebot vorhanden ist. Im Oktober braucht es aber auch nicht dieselbe Infrastruktur wie im Juli – zumindest momentan noch nicht. Die Entwicklung hin zum Ganzjahrestourismus braucht Zeit. Es gibt jedoch bereits viele positive Beispiele. Gstaad hat zum Beispiel entschieden, dass immer mindestens ein 5SternHotel offen ist.

Martin Nydegger
Martin Nydegger, Direktor Schweiz Tourismus, und Hansruedi Müller, Studienleiter CAS Tourismus und Digitalisierung an der Uni Bern, sind die Autoren des
demnächst erscheinenden Buchs «Unterwegs – Begegnungen und Reflexionen zum Tourismus». Das 340 Seiten starke Sachbuch kostet 49 Franken und kann im Weber Verlag (WIRmarket.ch > Weber Verlag; 100% WIR) vorbestellt werden. Das Werk ist auch auf Englisch erhältlich.
Der Verlag schreibt dazu: «‹Unterwegs› ist die aufschlussreiche Reise der beiden Autoren mit rund 75 Jahren kollektiver Tourismuserfahrung. Nach ihrer
gemeinsamen Veröffentlichung im Jahr 2008 ‹Der Schweizer Tourismus im Klimawandel› widmen sie sich in ihrem Werk insgesamt 20 bedeutenden Themen, angefangen von der Resilienz über Ästhetik oder Overtourismus bis zur neuen Diversifikation. Zusammen mit 20 spannenden Schweizer und internationalen Persönlichkeiten entfaltet sich ein facettenreiches Panorama aus Diskussionen, Einschätzungen und Erkenntnissen. Das Sachbuch bietet eine differenzierte Auseinandersetzung mit aktuellen Herausforderungen und verspricht eine inspirierende Reise.»
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