Wir sind in unserer Kultur ein «Ja» oder «Nein» gewohnt – mit der Pandemie erleben wir aber ein Phänomen, das unsere Generation nicht kennt: das Umgehen mit Mutmassungen. Wem soll man glauben?
Andreas M. Walker: Der Experte definiert sich dadurch, dass er recht hat. Dass er beweisen kann, dass es wirklich so ist. Und wenn nun ein Experte sagt «wir gehen davon aus, dass es wahrscheinlich so ist», dann ist das eine Mutmassung – und er zeigt Schwäche. Das wollen wir in unserer Kultur nicht. Es gibt keine Kultur der Unsicherheit. Dafür boomen die Verschwörungstheorien.
Unsicherheit kann gefährlich werden.
Auch in unserem Rechtsstaat haben wir die Vorstellung von Recht und Weisungen, die für alle gelten. Im Prinzip müssten wir – um zum vorherigen Beispiel zurückzukommen – sagen: Tragt alle Masken. Und die, die Masken tragen und trotzdem krank werden, haben Recht auf Behandlung. Bei den anderen, die nicht an die Sache glauben und keine Maske tragen, müsste die Eigenverantwortung spielen. Folglich haben wir keinen Platz frei im Spital. Diese verschiedenen Ansätze überfordern aber unser Modell der Rechtsstaatlichkeit.
Und das Beispiel wäre ethisch sehr problematisch.
Als Querdenker müssen wir den Ansatz eines Gegenmodells durchdenken. Aber, ja, Fakt ist, dass öffentliche Diskussionen heute sofort stark emotionalisiert werden. Es besteht eine Art von Denkverbot, da politisch nicht mehr korrekt. Und aus dem Verständnis von «Political Correctness» bilden Leute sehr schnell eine Meinung, ohne dass sie ein Phänomen wirklich zu Ende gedacht haben.
Wie würde das Durchdenken bei diesem medizinischen Beispiel der Maskenverweigerer aussehen?
Aus der Versicherungs- und Bankenbranche kennen wir das risikoorientierte Pricing. Je nachdem, wie viel Risiko ein Kunde nimmt, verändert sich der Preis. Wenn wir das im juristischen oder medizinischen Bereich auch machen würden, ist das aus ethischer Sicht nicht erlaubt. Deshalb denken wir solche Ansätze eben nicht zu Ende. Um neue Lösungen finden zu können, müssen wir aber denkerische Tabus brechen.
Wie?
Ein Beispiel: Bilanz im öffentlichen Gesundheitswesen. Wir haben Corona-Patienten allgemein als hochwertig definiert. Die Devise: Intensivpflegebetten unbedingt freihalten für Corona-Patienten. Effektiv haben wir diese Betten auch in der ersten Welle maximal bis zur Hälfte gebraucht. Trotzdem wurden ganz viele nicht notwendige Operation zurückgestellt. Ein Tabu wird gebrochen, wenn ich nun die Frage stelle: Wie viele Leute, die zu spät oder nicht behandelt wurden, haben gesundheitliche Nachteile erlitten oder sind sogar gestorben? Diese Gegenrechnung wird als politisch unkorrekt zensuriert. (zögert) Und ich tue mich selbst schwer, derartige Fragen zu formulieren.
Kommentare
Zu diesem Beitrag gibt es noch keine Kommentare.