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«Genossenschaften bleiben auch in Zukunft attraktiv»

11 min.
Flury

von Daniel Flury

22 Beiträge

Daniele Ceccarelli ist Rechtsanwalt und war von 1992 bis 2023 Leiter des Rechtsdiensts bzw. Senior Counselor der Bank WIR. In dieser Eigenschaft vertrat er seine Arbeitgeberin in der Idée Coopérative Genossenschaft ICG, deren Mitglied die Bank ist. Seit seiner Pensionierung berät Ceccarelli im Auftrag der ICG Start-ups, die sich als Genossenschaft aufstellen wollen oder die Antworten auf Fragen rund um das Genossenschaftsrecht suchen.

Nur 1,15% der Unternehmen in der Schweiz sind Genossenschaften, und ihre Zahl nimmt trotz Neugründungen tendenziell ab. Ist die Genossenschaft eine aussterbende Rechtsform?

Die Zahl der Neugründungen liegt immerhin bei durchschnittlich 100 pro Jahr, was beweist, dass die Gesellschaftsform Genossenschaft aktuell ist und nachgefragt wird. Und sie sind ein bedeutender Wirtschaftsfaktor: Die 10 grössten Genossenschaften – zu ihnen gehören etwa Raiffeisen, Migros, Coop, Fenaco oder mobility – haben 2022 4% der Erwerbstätigen beschäftigt und 11% der Wirtschaftsleistung erbracht.

Laut offizieller Lesart gibt es in der Schweiz 236 Banken, eine davon ist die genossenschaftlich organisierte Raiffeisen Schweiz. Zählt man die 219 regionalen, rechtlich eigenständigen Raiffeisenbanken zu den übrigen 23 Banken mit der Rechtsform Genossenschaft, so müsste man mit über 430 in der Schweiz tätigen Banken rechnen, wovon dann die Mehrzahl – rund 240 – genossenschaftlich organisiert ist. Was macht die Genossenschaft so attraktiv für Banken?

Eine genossenschaftlich organisierte Bank ist deshalb attraktiv, weil sie – wie jede Genossenschaft – keine Gewinnmaximierung verfolgt und eher auf die Interessen ihrer Kunden ausgerichtet ist als eine Bank, die z.B. von einem Mehrheitsaktionär kontrolliert wird. Eine Genossenschaftsbank ist typischerweise lokal verankert und kennt die Bedürfnisse der Bevölkerung und KMU genau. Dort haben sie auch ihre Wurzeln: in der Selbsthilfe, Selbstverwaltung und Selbstverantwortung.

Es heisst, die Rechtsform Genossenschaft schützt vor Übernahmen. Ist das korrekt?

Ein sogenanntes unfriendly takeover ist nicht möglich. Weil bei einer Genossenschaft das Kapital nicht im Vordergrund steht, kann niemand eine Kapitalmehrheit erlangen. Auf «politischer» Ebene ist eine Einflussnahme natürlich möglich, denn die Generalversammlung einer Genossenschaft funktioniert ähnlich wie eine Gemeindeversammlung, wo eine Interessengruppe ein bestimmtes Geschäft durchbringen oder zu Fall bringen kann. Dieser unmittelbare, direkte Aspekt macht die Genossenschaftsform so «lässig».

Für welche Branchen oder Geschäftstätigkeiten sind Genossenschaften speziell gut geeignet?

Gemeinhin kennt man z.B. Einkaufs- oder Wohnbaugenossenschaften, geeignet sind sie aber für alle Geschäftstätigkeiten. Während meiner erst einjährigen Beratungstätigkeit habe ich über 30 Interessenten begrüsst, deren beabsichtigte Tätigkeit vom Betrieb einer Insektenfarm bis zum Recyclingunternehmen reicht. Eine Genossenschaft,
deren Gründung ich begleitet habe, ist die Schweizerische Genossenschaft für Vermögensverwalter, eine andere die OA Publishing Collective Genossenschaft. OA steht für Open Access: Diese Genossenschaft stellt eine Plattform zur Verfügung, auf der Publikationen aus dem Bereich Pädagogik veröffentlicht und gelesen werden können.

Zu den Vorteilen einer Genossenschaft zählt, dass grundsätzlich kein Kapital vorausgesetzt wird. Ist das graue Theorie oder Realität?

Eine Genossenschaft darf von Gesetzes wegen kein zum Voraus festgelegtes Grundkapital haben, das ist ein Aspekt des Prinzips der offenen Tür. Dies im Gegensatz zu
einer AG oder GmbH, die ein Mindestkapital voraussetzen. Aber natürlich benötigt auch eine Genossenschaft Geld für die Aufnahme der Geschäftstätigkeit. Woher das Geld kommt, wird in den Statuten festgelegt. Neben der Ausgabe von Anteilscheinen kann ein Eintrittsgeld erhoben werden oder ein jährlicher Betrag zur Deckung der Verwaltungskosten. Seltener wird auch eine Nachschusspflicht vorgesehen, also eine Haftung der Genossenschafter im Fall einer Unterbilanz.

Zu den Voraussetzungen für die Gründung einer Genossenschaft zählen sieben Genossenschafter. Ist das nicht eine zu hohe Hürde?

Das kann man durchaus so sehen. Es gab Bestrebungen, die Mindestzahl auf drei zu senken wie bei einer AG oder GmbH. Überhaupt wurde vor ein paar Jahren eine Gesamtrevision des Genossenschaftsrechts ins Auge gefasst. Die Idée Coopérative hatte in diesem Zusammenhang bei etlichen Genossenschaften den Puls gefühlt, mögliche Revisionspunkte aufgezeigt und Positionspapiere verfasst. Auf diese wertvolle Arbeit wird man zurückgreifen können, sollte in Zukunft doch noch eine Gesamtrevision erfolgen, denn der Bundesrat hat aktuell keinen Revisionsbedarf festgestellt. Zu einigen Neuerungen ist es trotzdem schon gekommen, so müssen Genossenschaften seit Januar 2023 – mit dem Inkrafttreten des revidierten Aktienrechts – ihre Gründungsstatuten und Änderungen bestehender Statuten durch einen Notar öffentlich beurkunden lassen.

Der «Congrès» der Idée Coopérative vom 17. Oktober dieses Jahres steht unter dem Motto «Zukunftsfähigkeit». Wie beurteilst du die Zukunftsfähigkeit von
Genossenschaften?

Diese Rechtsform bleibt auch in Zukunft attraktiv für Leute, die ein kooperatives, selbstbestimmtes und flexibles
Arbeitsumfeld suchen. Ich nenne gerne das Beispiel von sieben Landwirten, die sich zusammenschliessen und gemeinsam einen Mähdrescher anschaffen wollen: Wählen sie eine Genossenschaft, hat jeder genau eine Stimme, jeder hat dieselben Interessen und Hintergründe, jeder
weiss, wie, wann und wo ein Mähdrescher eingesetzt wird. Bei einer Aktiengesellschaft stehen nicht die Personen, sondern das Kapital im Vordergrund. Es heisst: «Wer zahlt, befiehlt». Wenn einer der Bauern die Aktienmehrheit hat, kann er die Verwendung des Mähdreschers nach eigenem Gutdünken kontrollieren.

Ein ausgezeichnetes Beispiel für die Zukunftsfähigkeit der Genossenschaften ist im Übrigen die Bank WIR, der ich an dieser Stelle herzlich zum 90. Geburtstag gratulieren möchte. Als einer, der die letzten 30 Jahre der Bankgeschichte miterlebt und auch ein wenig mitgestaltet hat, freue ich mich schon jetzt auf das Fest zum 100-jährigen Bestehen 2034

Idée Coopérative

Die Idée Coopérative Genossenschaft ICG hat zum Ziel, «die genossenschaftlichen Grundprinzipien der Selbsthilfe, Selbstverantwortung und Selbstverwaltung zu vermitteln und zu propagieren sowie ihre Umsetzung in Praxis, Politik und Wissenschaft zu Fördern». Die ICG führt am 17. Oktober 2024 in Bern einen Kongress durch, der die Zukunftsfähigkeit der
Genossenschaften in der Schweiz unter Beweis stellen soll. Die ICG hat 133 Mitglieder – darunter auch die Bank WIR –, gibt zahlreiche Tipps für die Gründung einer Genossenschaft und publiziert den Genossenschaftsmonitor

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